Serotonin-Mangel und Herzschmerz im virtuellen Raum: Ghost Shima braucht neue "Chemie"

Ghost Shima hat keine Lust auf die graue Realität, sehnt sich nach einer Feuerspritze Dopamin, nach echten Emotionen, nach einer Schulter zum Anlehnen. Mit "Chemie" legt das zum Leben erwachte Emoji, diese Künstler:in gewordene Mischung aus Einsen, Nullen und humanoidem Gefühlsgerüst, die zweite Single seiner jungen und in Deutschland bisher einzigartigen Karriere vor.

Im Zuge von "Matrix" hat Ghost Shima im Januar 2023 die Tür zu einer Utopie geöffnet, die bunter und harmonischer ist als die echte Welt — ein "emojelly rabbit hole" zwischen Traumvorstellung und Wirklichkeit, Gegenwart und Zukunft, Computerspiel-Universum und Tanzfläche. "Chemie" spinnt diese Sphäre nun weiter, schärft den Charakter der geschlechtslos-mysteriösen, nimmermüde-getriebenen Animé-artigen Gestalt, die seit September 2022 auf TikTok ihr Unwesen treibt, jenseits jeglicher Genre-Schubladen durch die Nacht tänzelt und sich Ghost Shima nennt.

Anders als "Matrix", der zweieinhalbminütigen ersten Single, die Ghost Shima 30.000 monatliche Hörer_innen auf Spotify beschert hat, erscheint "Chemie" ohne große Vorlaufzeit. In Sachen Ohrwurm-Potential steht die zweite Auskopplung dem Debüt jedoch um keinen Zentimeter nach. "Chemie" setzt sich durch seine ausgeklügelte Melodieführung innerhalb kürzester Zeit im Hinterkopf seiner Hörer:innen fest, kombiniert Hyperpop-Ästhetik mit einem treibenden Beat, unvorhersehbaren Brüchen und an Chipmunk-Soul erinnernde Gesangspassagen.

Ghost Shima klagt — getaucht ins Geflacker des Stoboskops und geblendet vom blauen Licht des Handydisplays — über Serotonin-Mangel und Herzschmerz, fühlt sich "lonely", braucht neuen Treibstoff zum Atmen. Als wäre die anhaltende Debatte um künstliche Intelligenz nicht schon verwirrend genug, kommt nur also auch noch ein musizierender Avatar um die Ecke, der weder AI, noch Mensch aus Fleisch und Blut zu sein scheint und besingt die großen Gefühle — willkommen in der Zukunft.