Raveena
Es war seit jeher Raveenas Bestimmung, eine Heilerin zu werden. Und das nicht nur, weil ihre Eltern ebenfalls Reiki-Heiler waren. Sie flohen vor den Anti-Sikh-Pogromen von 1984 aus Indien in die USA, nachdem ihr Onkel getötet worden war und das Geschäft der Familie niedergebrannt wurde. Raveena kommt in Massachusetts zur Welt und entdeckt ihr Medium bereits früh in ihrem Leben...
Es war seit jeher Raveenas Bestimmung, eine Heilerin zu werden. Und das nicht nur, weil ihre Eltern ebenfalls Reiki-Heiler waren. Sie flohen vor den Anti-Sikh-Pogromen von 1984 aus Indien in die USA, nachdem ihr Onkel getötet worden war und das Geschäft der Familie niedergebrannt wurde. Raveena kommt in Massachusetts zur Welt und entdeckt ihr Medium bereits früh in ihrem Leben - ihre Stimme. Im Badezimmer verbringt sie ungezählte Stunden damit, vor dem Spiegel den Gesang von Musen wie Ella Fitzgerald, Sade, Corinne Bailey Rae und Amy Winehouse nachzuahmen. Sie spürt die Kraft, die von diesen Songs ausgeht, außerdem stellt sie fest: Musik hilft ihr, die Diskrepanz zwischen ihren eigenen Ansichten und dem Konservatismus zu überbrücken, der die Sikh-Kultur prägt: "Ich konnte eine Welt erschaffen, die größer war als die, in der ich leben durfte", erinnert sie sich.
Raveena beschreibt die von ihr geschaffenen Klangwelten oft als "cineastisch". Sie sind eine Schnittstelle aus all ihren unterschiedlichen Einflüssen, von den Bollywood-Soundtracks ihrer Kindheit und Jugend bis hin zu späteren Entdeckungen wie R&B, Hip-Hop, Soul, Folk und Jazz. Dieses Verschmelzen ist von zentraler Bedeutung für Raveenas Arbeitsweise als Künstlerin, wie eine Linse, durch die sie Identität, Kultur und Heilung in Augenschein nimmt, ein Portal, das die Zuhörer:innen in eine andere Welt transportiert. Ihre Fähigkeit, einen beim Hören mit ihrer Sanftheit - ihre größte Waffe - zu fesseln und dabei stets etwas Spielerisches, Optimistisches auszustrahlen, ist das Ergebnis von vielen Jahren der Selbstreflexion. Und es ist getragen von ihrem unerschütterlichen Glauben an das Gute in den Menschen: "Ich bin wirklich froh, mich so viel damit beschäftigt zu haben und lerne ständig weiter dazu, was das tatsächlich bedeutet: langsamer und bewusster mit meinen Gedanken umzugehen und mit meiner Energie zu haushalten", sagt sie.
Der Grundstein für die Raveena, wie man sie heute kennt, wurde 2017 gelegt: Kurz nach ihrem Abschluss an der Tisch School of the Arts an der New York University veröffentlichte sie ihre "Shanti" EP, die ihr auf Anhieb großes Kritikerlob einbrachte, u.a. für den Durchbruch-Song "If Only". Das Projekt ist ein ausladendes und romantisches Gemälde über die vielen Facetten einer Liebe im Umbruch. Den Erfolg konnte Raveena allerdings zu der Zeit nicht wirklich genießen, denn tatsächlich fand sie selbst sich in einem Zustand großer innerer Unruhe: in ihr keimten Gefühle der Queerness auf, die sie zunächst stark verunsicherten - und schließlich 2018 zu dem überzeugten Schritt bewogen, sich offiziell als bisexuell zu outen.
2019 veröffentlichte Raveena in Eigenregie ihr Debütalbum "Lucid", ein vielbeachtetes Projekt, das ihr großes Talent unterstrich und mit seiner Mixtur aus zeitgenössischem R&B und Elementen aus der südasiatischen Diaspora ihre künstlerische Vielschichtigkeit unter Beweis stellte. Nebelverschleierte, hypnotische Arrangements und sanft schwebende Melodien bilden das klangliche Gerüst der Songs, in denen Raveena inhaltlich umso tiefer einsteigt, etwa wenn sie einige ihrer traumatischsten Erlebnisse als Opfer einer toxischen und gewalttätigen Beziehung dokumentiert oder Schilderungen queerer Liebe liefert. 2020 folgte die ruhige und doch opulente EP "Moonstone", die unter anderem den sinnlichen Song "Headaches" enthielt - einer der Favoriten unter ihren Fans.
Und nun, zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie? Hat Raveena die Persona einer "religiösen Oma" angenommen, wie sie scherzhaft über das jähe Ende ihrer vierjährigen kreativen Sturm- und Drangphase sagt. Praktisch zur Pause gezwungen, entpuppte sich die Zeit als Quell großer Inspiration und Kreativität für die Künstlerin, die sich tief in der indischen Folklore versenkte und eine weitere Dimension in ihrem komplexen Universum erschloss. Am Ende stand "Asha's Awakening", ihr neues Werk, das die fesselnde Geschichte einer Weltraumprinzessin aus dem alten Punjab erzählt, die auf einer fantastischen Reise durch die Jahrhunderte etwas über Liebe und Verlust, Heilung und Zerstörung lernt. Konzeptionell spiegelt das Album den Aufstieg und Fall dieser Figur wider: Nach dynamischen Nummern wie "Rush" und "Secret" wird sie allmählich weicher und grüblerischer, findet zu Weisheit und Vollkommenheit, bevor schließlich eine geführte Meditation die Geschichte zu ihrem Ende führt. "Ich wollte etwas komplett Neues machen und die Seiten an mir erforschen, von denen die Leute nicht einmal wissen, dass sie existieren", sagt sie. "Deshalb habe ich für dieses Album eine Figur gewählt, die etwas anderes verkörpert. Darin liegt eine eigene Kraft."
Für "Asha's Awakening" tat sich Raveena einmal mehr mit Producer Everett Orr zusammen. Ihre experimentellen Erkundungen wagen sich tief in die indische Kultur vor - ein Projekt, das seit drei Jahren in der Mache ist. Die Leadsingle "Rush" legte den Grundstein für das Album und hat ihre Anfänge sogar bereits im Jahr 2016, nachdem Raveena bei einem Besuch des Rubin Museums in New York einen psychedelischen Acid-Trip erlebt hatte. Zu den musikalischen Mitwirkenden auf dem Album gehören Vince Staples ("Secret"), TWEAKS ("New Drugs") und die legendäre indische Singer-Songwriterin Asha Puthli ("Asha's Kiss"). Das Album verarbeitet Einflüsse von Bollywood und gefeierten indischen Künstlern wie R.D. Burman und Asha Bhosle ebenso wie aus westlicher Musik, insbesondere R&B, Rock und Soul. Das Ergebnis ist ein Schmelztiegel, in dem sich die in Raveenas Katalog vorherrschenden Genres zu einem stimmigen Ganzen vereinen. Das Album überspannt dabei gleich mehrere Epochen, indem es Sounds von Alice Coltrane und Asha Puthli aus den 60er- und 70er-Jahren einen zeitgenössischen Anstrich verpasst und sie mit jenen von Timbaland, Missy Elliott, M.I.A. und Jai Paul aus den frühen 2000ern verquickt.
Wie man es bereits von Raveenas vorherigen Veröffentlichungen kennt, haftet jedem Song auf "Asha's Awakening" etwas Launiges, leicht Verschmitztes an, das beim Hören ein Gefühl von Leichtigkeit zurücklässt. Das Album hält eine Vielzahl von Stimmungen bereit, sei es nun "Mystery", eine Ode an die psychedelische Rock-Ära, "Magic" mit seinen klanglichen Referenzen an die frühen 2000erJahre, eine niederschmetternde Breakup-Ballade wie "Love Overgrown" oder augenzwinkernde Wortspiele in Tracks wie "Kathy Left 4 Kathmandu", wo Raveenas "I can open up your third eye" auf all jene abhebt, die sich an der Gentrifizierung heiliger kultureller Traditionen beteiligen.
"Ich hoffe, die Leute nehmen eine Offenheit und Unvoreingenommenheit daraus mit, einer Künstlerin beim Wachsen und Experimentieren zuzusehen", schließt sie. Raveenas neues Album dehnt die Dimension weit aus, überquert Zeitachsen und zeigt eine Künstlerin, die sich öffnet wie nie zuvor. "Ich finde es extrem reizvoll, Leute in für sie unbequeme Situationen zu stecken, damit sie auf diese Weise neue Seiten an sich selbst entdecken. Es ist immer spannend zu sehen, was dabei herauskommt. Die menschliche Erfahrung ist schier grenzenlos."